Ein Schreck in der Abendstunde

Juliane betrat gerade den Flur des Kindergartens als Nick auch schon jubelnd auf sie zu gelaufen kam. Sie breitete ihre Arme aus und fing den blonden Wirbelwind auf, nur um ihn dann einmal im Kreis um sich herum zu wirbeln.

„Hey, Kleiner“, sagte sie grinsend. „Kindergarten gut überstanden?“

„Jaha“, antwortete Nick gedehnt und befreite sich aus der Umarmung. „Bist du mim Auto da?“

Leise lachend schüttelte Juliane den Kopf. „Du weißt doch, dass ich bei dem Wetter nicht so gerne Auto fahre. Es hat schon wieder geschneit und die Straßen sind ziemlich glatt. Aber es ist ja nicht weit bis nach Hause.“

„Och menno.“ Einen Schmollmund ziehend ließ Nick sich auf die kleine Bank fallen und wechselte seine Schuhe. Nachdem er auch seine Jacke, Mütze, Schal und Handschuhe angezogen hatte, legte er seine kleine Hand in Julianes.

Hand in Hand gingen sie zum Ausgang, jedoch nicht ohne sich vorher noch mit einem gerufenen „bis morgen!“ von der Kindergärtnerin zu verabschieden.

Draußen angekommen machte Nick große Augen. „Du hast den Schlitten mitgebracht?“, fragte er ungläubig.

Juliane zuckte leicht mit den Schultern. „Ich dachte, ich zieh dich das Stück heim. Aber wenn du nicht willst, dann kannst du mich ja ziehen.“

„Du bist doch viel zu schwer.“ Lachend lief der Junge die paar Meter auf den Schlitten zu und setzte sich auf die Holzbretter. „Wo bleibst du denn?“

„Ich bin doch schon da.“ Die junge Frau bückte sich nach der Schnur und zog den Schlitten über Schnee.

Bis zu ihrem Haus war es nur ein knapper Kilometer, doch der tiefe Schnee, der Juliane mittlerweile schon bis oberhalb ihrer Knöchel reichte, machte es nicht gerade einfach. Zudem hatte es erneut angefangen in dichten weißen Flocken zu schneien und sie konnte kaum noch was sehen. Schnaufend stapfte sie, einen Fuß vor den anderen setzend, langsam vorwärts, das Schlittenseil fest in der Hand.

„Alles klar da hinten?“, vergewisserte sie sich zwischendurch immer wieder und erntete jedes Mal ein freudiges Jauchzen.

Zuhause angekommen ließ Juliane Nick zuerst rein und brachte anschließend den Schlitten auf die Terrasse hinter dem Haus.

„Ist Papa schon arbeiten?“ Nick klang enttäuscht.

„Ja, du warst doch heute länger im Kindergarten.“ Juliane schlüpfte aus ihren warmen Sachen und half Nick anschließend aus seinen. „Möchtest du mir beim Plätzchen backen helfen?“

Der Junge legte einen Finger auf die Nasenspitze und betrachtete die Freundin seines Vaters nachdenklich. „Darf ich denn auch Teig naschen?“

„Natürlich darfst du naschen. Das gehört doch dazu. Dann schnell einmal Hände waschen und danach kann's losgehen.“

„Du aber auch!“

„Aber klar doch. Was denkst du denn?“

Die beiden verschwanden kurz im Badezimmer, wuschen sich ihre Hände und begaben sich anschließend in die Küche. Den vorbereiteten Plätzchenteig hatte Juliane bereits aus dem Kühlschrank geholt, bevor sie Nick aus dem Kindergarten abholte. Dadurch hatte dieser nun die perfekte Konsistenz um sich gut ausrollen zu lassen. Sie band Nick und sich jedem eine Schürze um, mehlte die Tischplatte ein und rollte den Teig aus.

„Wieso verteilst du das Mehl auf dem Tisch?“, fragte Nick irritiert und musterte Juliane fragend.

„Weil sonst die Plätzchen am Tisch kleben bleiben“, antwortete diese. „Und dann gibt’s an Weihnachten keine Plätzchen.“

„Und wir haben dann keinen Tisch mehr.“ Lachend griff Nick nach den Ausstechformen und begann damit, diese quer über die ausgerollte Teigplatte zu verteilen.

„Was hältst du von ein bisschen Musik?“

Der Junge nickte kurz und meinte dann: „Die CD, wo das mit der Weihnachtsbäckerei drauf ist.“

„Wird erledigt.“ Juliane lief schnell über den Flur ins Wohnzimmer und suchte die gewünschte CD raus, die kurz darauf im CD-Laufwerk des Küchenradios verschwand.

Leise mitsummend und manchmal auch mitsingend widmeten sich die beiden im Einklang dem Plätzchen ausstechen. Ein Blech nach dem anderen verschwand im Backofen, Plätzchenduft breitete sich in der Wohnung aus und das ein oder andere Plätzchen landete im Mund von Nick oder Juliane.

„Du siehst ja aus wie ein Mehlmännchen.“ Juliane stupste Nick liebevoll mit ihrem Zeigefinger auf die Nase.

„Na und?“ Nick hob kurz die Schultern an und ließ sie wieder sinken. „Ist doch egal. Dann geh ich gleich baden.“

„Und ich muss alleine die Küche aufräumen?“

„Ja. Oder du lässt Papa das später machen.“

„Besser nicht. Der macht mir nur noch mehr Chaos hier“, erwiderte Juliane mit einem Zwinkern und schob sich ein Vanillekipferl in den Mund. „So du auch noch eins und dann ist's für heute gut. Sonst müssen wir morgen schon wieder backen.“

„Nee, das geht nicht. Morgen wollten wir doch hinterm Haus einen Schneemann bauen.“ Er verschränkte die kleinen Arme vor der Brust und schaute Juliane mit traurigem Blick an. „Das hast du mir versprochen.“

Juliane fuhr sich mit ihren Mehlhänden durchs Haar. „Stimmt, das habe ich. Dann machen wir das natürlich auch.“

„Juhu“, jubelnd fiel Nick ihr um den Hals und drückte ihr einen feuchten Kuss auf die Wange.

„Na dann komm“, forderte sie den Jungen auf und nahm ihn auf den Arm. „Ab in die Badewanne mit dir. Und wenn du fertig gebadet hast und ich die Küche sauber habe, dann setzen wir uns ins Wohnzimmer und spielen noch was.“

Wenig später spielte Nick mit seinen Autos in der Badewanne. Juliane kümmerte sich derweil darum, die gewohnte Ordnung in der Küche wieder herzustellen. Ein Blick aus dem Fenster ließ sie erstarren. War da grade jemand ums Haus geschlichen? Sie lauschte angestrengt, hörte aber nur das plätschern des Badewassers aus dem Badezimmer. Mittlerweile war es draußen stockdunkel, sodass sie nichts erkennen konnte. Doch sie war sich sicher: da war gerade ein Lichtschein gewesen. Mit klopfendem Herzen griff sie nach dem Nudelholz, das noch griffbereit auf der Arbeitsfläche lag, und löschte anschließend das Licht in der Küche. Erneut meinte sie vor dem Fenster ein Licht zu sehen. Was war das? Was sollte sie machen, wenn da wirklich jemand ums Haus schlich? Auf leisen Sohlen ging sie Richtung Badezimmertür. Sie klopfte leise an.

„Was denn?“, drang die genervt klingende Stimme von Nick an ihr Ohr.

„Alles in Ordnung. Du musst mir nur was versprechen. Bleib im Badezimmer bis ich dich hole. Okay?“

„Okeeee“, antwortete Nick und spielte weiter mit seinen Autos. „Die Erwachsenen sind komisch. Warum soll ich hier drin bleiben? Juli wollte doch mit mir spielen …“

Langsam schlich Juliane durch den Flur. Ein prüfender Blick ins Wohnzimmer, durch den Wintergarten nach draußen. Hinter dem Haus schien alles ruhig zu sein. Hatte sie sich etwa alles nur eingebildet? Nein, das konnte nicht sein.

„Bewahr einen kühlen Kopf“, ermahnte sie sich. „Guck noch mal zum Küchenfenster raus und wenn was ist, rufst du die Polizei. Und wenn nicht, dann lachst du später drüber.“

In der Küche angekommen drückte sie sich an der Wand entlang Richtung Fenster. Ganz vorsichtig schob sie die kleine Hängegardine zur Seite. Angestrengt den Blick in die Dunkelheit gerichtet, hielt Juliane den Atem an und lauschte erneut. War da ein Klappern direkt vor der Haustür? Starr vor Angst verharrte sie in ihrer Position, unfähig sich zu bewegen.

'So ein Mist. Das Telefon ist im Flur auf der Ladestation', schoss es ihr panisch durch den Kopf. 'Was mach ich jetzt nur?'

In dem Moment hörte sie, wie die Haustür aufging und kurz darauf drang ein leises Stampfen an ihr Ohr. Juliane schloss die Augen. Jetzt war alles zu spät. Vielleicht hätte sie Glück und der Eindringling würde nicht in die Küche kommen. Und hoffentlich ging er auch nicht ins Bad.

„Nick? Juli? Seid ihr da?“, zerriss plötzlich eine wohlbekannte Stimme die Stille.

Juliane erwachte mit einem erleichterten Seufzen aus ihrer Starre. „Martin! Du bist es! Ein Glück …“ Sie spürte wie ihr eine einzelne Träne aus dem Augenwinkel über die Wange lief. Schnell wischte sie diese mit dem Ärmel weg und fiel Martin um den Hals.

„Was ist denn los? Ist was passiert?“ Martin drückte seine Freundin, die am ganzen Körper zitterte, an sich. Beruhigend strich er ihr durchs Haar.

„Ich … da war jemand … vorm Haus … mit einer Taschenlampe“, stotterte sie aufgeregt, ihr Gesicht am Hals des Freundes verborgen.

Martin hob Julianes Gesicht mit einem Finger sanft an. Ihre Blicke fanden sich und verfingen sich ineinander. Beruhigend lächelnd sagte er: „Süße, das war ich. Die Außenlampe scheint kaputt zu sein und mir ist der Schlüssel in den Schnee gefallen. Ich hätte wohl lieber klingeln sollen.“ Sanft strich sein Finger über ihre Wange.

„Du warst das?“ Erleichterung breitete sich in Julianes Blick aus. „Oh man, es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte die Polizei angerufen … Aber, warum bist du schon zuhause?“

„Wegen dem Schneechaos. Der Chef hat uns alle heimgeschickt. Es ist kaum noch ein Durchkommen auf den Straßen und der Winterdienst kommt auch schon nicht mehr hinterher. Habt ihr schon zu Abend gegessen?“

„Nein. Wobei wir beim Backen relativ viele Plätzchen gegessen haben.“

„Dann ist ja gut. Ich hab Pizza mitgebracht.“ Martin deutete auf den kleinen Garderobenschrank auf dem zwei Pizzakartons lagen.

„Du bist ein Schatz!“ Juliane drückte ihre Lippen auf Martins und sie verschmolzen zu einem innigen Kuss.

„Juuuuuliiiiii“, schallte plötzlich Nicks Stimme aus dem Badezimmer und riss die beiden Erwachsenen aus ihrer Lethargie. „Das Wasser wird kalt!“

Lachend befreite Juliane sich aus der Umarmung ihres Freundes. „Dann muss ich wohl mal dabei gucken. Nicht, dass der Kurze uns noch in der Badewanne erfriert.“

„Wie wär's wenn ich das übernehme? Du könntest in der Zwischenzeit den Tisch decken“, schlug Martin vor.

„Okay, dann machen wir's so. Nick wird sich freuen, dass du schon da bist.“

„Du etwa nicht?“, neckte Martin und erntete ein erneutes Lachen. „Schön, dass du wieder lachst.“ Mit einem Zwinkern verschwand er durch die Badezimmertür und wurde von seinem Sohn freudig begrüßt.

Ein paar Minuten später saßen sie bei Kerzenschein und Pizza im Wintergarten. Im Hintergrund lief leise Weihnachtsmusik. Nach dem Essen spielten sie eine Partie Mensch ärgere dich nicht und kuschelten sich anschließend zu dritt auf die Couch um Rudolph, das Rentier im Fernsehen zu sehen.

Martin und Juliane saßen, nachdem sie Nick im Anschluss an den Film ins Bett gebracht hatten, noch gemütlich im Wohnzimmer, erzählten sich von ihrem Tag und lachten über den Schrecken, den Juliane ein paar Stunden zuvor hatten.

Eng an ihren Freund gekuschelt, fielen Juliane irgendwann die Augen zu. Sie bekam nur noch halb mit, wie Martin sie auf den Arm nahm, ins Schlafzimmer trug, sie ins Bett legte und liebevoll zudeckte.

Seine Lippen legten sich sanft auf ihre Schläfe und flüsterten leise: „Ich liebe dich …“